Polizeiführungsakademie Hiltrup, 21. Oktober 2002 Moral in der Polizei – Erfahrungen eines Polizeiseelsorgers Vortrag von Frank Rutkowsky, Hamburg Kürzlich hörte ich am Rande einer Großveranstaltung mit an, wie ein Betrunkener einen Polizisten in eines dieser nervtötenden Gespräche verwickelte, die Betrunkene so lieben. Nachdem der Mann endlich weitergezogen war, sagte ich zu dem Beamten: "Soviel Geduld hätte ich ja nicht gehabt." Darauf seine Kollegin: "Die hat er ja auch nur, weil Sie dabei sind." Sie sehen: Als Polizeipfarrer bin ich denkbar ungeeignet, aus eigener Anschauung einen brauchbaren Zustandsbericht über die moralische Lage in der Polizei zu liefern, denn hier gilt, was die Sozialwissenschaften als das methodische Problem der "teilnehmenden Beobachtung" kennen: Die Anwesenheit des Beobachters verändert die Mess-Ergebnisse. Was der Pfarrer zu sehen bekommt, ist nicht ganz typisch für das, was sich wirklich abspielt. Einmal hatte ich Gelegenheit, den Unterschied "in Echtzeit" zu studieren: Ich kam zufällig an einen Unfallort. Es war nichts Schlimmes passiert, aber die Beteiligten befanden sich doch in heller Aufregung und ich kümmerte mich bis zum Eintreffen der Polizei ein bisschen um sie. Die Beamten erkannten mich nicht gleich, und im ersten Trubel ergab sich auch keine Gelegenheit, mich ihnen vorzustellen. Ein wenig befremdet sah ich mit an, wie kurz angebunden sie waren. Nach einer Weile schlugen sie jedoch einen anderen Ton an, und bald darauf konnte ich mich Ihnen endlich mit dem Zusatz vorstellen: "... ich bin der ev. Polizeiseelsorger." Darauf einer von beiden: "Ja, das ist uns auch gerade eingefallen." Wir könnten diese kleine Szene zum Ausgangspunkt eines ethischen Exkurses etwa über Kohlbergs "Stufen der Moral" machen und fragen: Warum hat meine Anwesenheit die Beamten zur Änderung ihres Verhaltens veranlasst? Waren sie an diesem Tag nur schlecht in Form, fühlten sie sich dann aber durch meine Gegenwart an ihre eigenen Prinzipien erinnert? Oder war eher konventionelle Moral im Spiel: Man macht halt das, was von einem erwartet wird, und wenn eine "moralische Instanz" dabei steht, verhält man sich, wie diese das vermutlich gerne hätte? Mir kommt es hier jedoch nur auf die Erkenntnis an, dass ich mich in meinem Urteil nicht allein auf meine Wahrnehmung verlassen kann. Ich muss andere Quellen mit einbeziehen, beispielsweise das, was mir im Rahmen der Seelsorge anvertraut wird. Allerdings kriege auch ich gelegentlich Vorkommnisse mit, die nicht "zum Herzeigen" sind. Ich denke z.B. an Anflüge von Gewalttätigkeit, die ich zweimal beobachtet habe. Ich stand dabei ein wenig abseits, habe sie nur aus dem Augenwinkel gesehen und war wohl auch selbst nicht richtig im Blickfeld. Das eine Mal wurde ein pöbelnder Betrunkener aus der Wache geworfen, das andere Mal ein ebenfalls Betrunkener nach einer kleinen, harmlosen Tätlichkeit gegenüber einem Beamten sehr unsanft fixiert. Dabei geschah nichts Schlimmes, und ich hatte auch nicht das Gefühl, hier tobe sich Brutalität aus. Eher schien mir darin etwas Demonstratives zu liegen, als wollten die Beamten sagen: "Glaube nicht, dass wir immer nur freundlich und geduldig sein müssen. Wir können auch anders, und dies ist eine Gelegenheit, das einmal zu zeigen." Gleichwohl illustrieren diese Vorfälle, wie dünn die Scheidewand sein kann zwischen dem sicher auch von den meisten Beamten gewollten Auftreten und einem Benehmen, in dem noch ganz andere Kräfte walten. Nun habe ich gleich mit zwei Problemfällen begonnen. Muss man bei "Polizei und Moral" immer sofort an Übergriffe denken? Oder liegt das daran, dass sich über Schwierigkeiten interessanter erzählen lässt als über Dinge, die glatt gehen? Mir scheint, es gehört zum Wesen von Moral, um des Guten willen vor allem auf das Negative zu achten. Schon die Zehn Gebote bestehen überwiegend aus Verboten. Moral verhält sich wie ein Wächter, der von der Stadtmauer ins Feindesland blickt und nach den Gefahren Ausschau hält, die von dort drohen, so dass er manchmal vergisst, was unter seinem Schutz, in der Stadt, die er bewacht, an Gutem geschieht. Ich wende mich also um und nehme das Positive in den Blick: Zuwendung Einen meiner ersten Eindrücke als Polizeiseelsorger gewann ich, als ich nachts im Hamburger Bahnhofsviertel St. Georg mit zwei Zivilfahndern unterwegs war und die Festnahme eines Drogendealers samt seines Kunden miterlebte – mit allem, was dazugehört: einem Sprint durchs Gebüsch, Durchsuchung usw. Dabei hat mich der äußere Ablauf weniger beeindruckt als die Haltung, mit der die beiden Polizisten ihre Arbeit machten: Während sie dem jugendlichen Dealer erklärten, dass er nun zur Wache mitkommen müsse, eine Nacht in der Zelle verbringen und natürlich eine Anzeige erhalten werde, musterte ihn der eine von beiden Beamten mit einer versonnenen, nachdenklichen Aufmerksamkeit. Darin lag ein gewisser Humor und etwas geradezu Liebevolles, als wollte er sagen: "Ach Junge, was machst du bloß mit deinem Leben?!" Diese Szene ist mir zu einem Sinnbild dessen geworden, was ich für die hohe Kunst des Polizeiberufes halte: Die Fähigkeit, entschlossen zuzufassen (ich nenne das "gute Aggression", denn Aggression heißt vom Wortsinn ja erst einmal nur "An eine Sache herangehen", "Zugreifen") – diese Fähigkeit mit so etwas wie Liebe zum anderen Menschen zu verbinden. Immer wieder treffe ich auf Polizisten, die diese "Vereinigung der Gegensätze" beherrschen oder ihr zumindest nachstreben und damit die vielleicht schwierigste Aufgabe in ihrem Beruf meistern. Vielleicht macht das einen Teil des Reizes aus, den für mich die Arbeit mit Polizistinnen und Polizisten hat: Dass hier eine Mitte zwischen zwei Extremen gefunden werden muss, während Pfarrer oder Sozialarbeiter ja manchmal in der Gefahr stehen, nur das Sanfte auszuformen und das Moment von Lebenstüchtigkeit, zu dem auch Aggression gehört, nicht genug zu entwickeln. Bei Polizisten sehe ich: Man muss beides können, sonst besteht die Gefahr, dass man zur Karikatur wird – so wie es umgekehrt ja auch bei einem Polizisten der Fall ist, der nur auf Konflikt und Durchsetzung gebürstet ist. Ein anderes Erlebnis hatte ich in einer Sylvesternacht in der Polizei-Einsatzzentrale: Kurz nach Mitternacht wurden zahlreiche Wohnungsbrände gemeldet – in einigen Stadtteilen so viele, dass die Feuerwehr aus benachbarten Vierteln hinzugezogen werden musste, und das dauerte natürlich. Vor einer dieser Wohnungen stand die Besatzung eines Streifenwagens und fragte über Funk. "Wo bleibt denn die Feuerwehr?” "Die Feuerwehr ist unterwegs.” Kurze Pause, dann wieder die Beamten: "Wir glauben, dass da noch jemand drin ist. Wir gehen da jetzt rein.” Nach einer Weile meldeten sie sich erneut: "Da war noch jemand drin. Wir übergeben die Person jetzt (inzwischen waren andere Kräfte eingetroffen) und fahren zurück zur Wache.” Im Trubel dieser Nacht hat dieser Vorgang vermutlich keine weitere Aufmerksamkeit gefunden. Vielleicht ist er nicht einmal den beteiligten Beamten in besonderer Erinnerung geblieben. Aber mich rührt er immer noch, wenn ich davon erzähle, denn ich sehe in dem nüchternen und entschlossenen Eingreifen der beiden Polizisten eine ganz ursprüngliche Menschlichkeit, die unspektakulär, ohne von sich irgendein Aufhebens zu machen, das tut, was für den anderen, den Nächsten, nötig ist. Für mich hat das im Grunde etwas Mystisches – nicht im Sinne der meditativen Versenkung, sondern als Bereitschaft, ganz praktisch Teil von etwas großem Ganzen zu sein. Wir könnten solche Geschichten in großer Zahl zusammentragen. Sie machen einen Teil dessen aus, was dem Polizeiberuf einen besonderen Nimbus verleiht, und sie weisen auf den perspektivischen Punkt im Denken derer, die auch im moralischen Sinne "gute Polizisten" sein wollen. Wo, um nun aber doch wieder einen Blick "ins Feindesland" zu werfen, lauern besonders die Gefahren? Ich werde im Folgenden nicht jedes Feld abschreiten, das etwa in einem Ethikbuch Platz finden müsste, sondern ich beschränke mich auf einige Themen, die sich mir immer wieder besonders aufdrängen. Dabei will ich auch deutlich machen, inwiefern für mich Ethik und Seelsorge zusammengehören. Gewalt Die Gewaltfrage ist zwangsläufig mit dem Polizeiberuf verknüpft, denn trotz aller verlangten Zurückhaltung, Einfühlsamkeit usw. gehört Gewaltanwendung doch zur Polizeiarbeit. Sie wird – theologisch würden wir sagen: als opus alienum, als etwas, das zwar nicht gewünscht wird, aber zur Abwehr noch größeren Übels manchmal unvermeidlich ist – bejaht. Damit sind Polizeibeamte in einer sensiblen Position, in der alles darauf ankommt, wie verantwortungsbewusst sie mit diesem Auftrag umgehen. Da wir Menschen fehlbar sind, ist es schon rein statistisch wahrscheinlich, dass immer wieder auch Übergriffe vorkommen. Wie oft das der Fall ist, kann ich nicht sagen. Aber manchmal gestehen mir Beamte, was sie früher einmal getan oder erlebt haben, etwa einen völlig überzogenen Schlagstockeinsatz bei einer Demonstration, Selbstjustiz an einer Wache, und zwar als gängiges Verhalten, Nachkarten nach einer Festnahme – und späteres Schneiden des Kollegen, der dagegen (nur im Kreis der Beteiligten!) Stellung bezogen hatte. Manches liegt lange zurück und wird mit einer gewissen Scham unter der Überschrift erzählt: "So war das eben früher. Ich war jung und dachte: Das gehört so." Deutlich wird daran: So wie Moral ohne rechtliche Sanktionen in gewissen Fällen wirkungslos bliebe, muss es umgekehrt eine kraftvolle, anerkannte Moral geben, die das, was im Strafrecht steht, bekräftigt und stützt. Sonst kann das Strafrecht in stillschweigendem Einvernehmen umgangen werden. An solcher Moral wird vielerorts gearbeitet. Ich finde die Anstrengungen erheblich, die ich in Hamburg beobachten kann. Manchmal gehen sie mir sogar eine Spur zu weit: Ich halte es für falsch, wenn Polizeischülern beigebracht wird, sie sollten, falls sie einmal Gewalt anwenden müssen, dies als Niederlage verstehen. Mir ist natürlich klar, was damit eigentlich gesagt werden soll, nämlich dass Gewalt nur als ultima ratio und nicht etwa gerne eingesetzt werden solle. Trotzdem finde ich die Formulierung unglücklich, weil sie den Beamten in eine Zwickmühle schickt. Wo jemand nach bestem Verständnis Zwang anwendet – d.h.: so gut dosiert, aber auch so entschlossen und wirkungsvoll wie möglich – sollte ihm kein schlechtes Gewissen gemacht werden. Wenn der Auftrag an den Polizisten lautet, dass er Gewalt anwenden muss, um Schlimmeres zu verhindern, muss er diese Gewalt auch tapfer anwenden können – wenn er es mit lauterem Herzen tut. Dies Letzere ist das entscheidende Kriterium. Es ist allerdings nicht messbar. Anderes kann man äußerlich erfassen, aber die letzte moralische Bewertung hängt an etwas Unmessbarem. Wir bewegen uns hier auf einem Terrain, auf dem Wahrheit nur unscharf formuliert werden kann. Polizisten können moralisch nicht in dem Sinne sauber bleiben, dass sie einfachen Maximen folgen könnten. Eigentlich kann das niemand, weil es im Leben immer wieder Fälle gibt, in denen wir, um das Gute zu tun, das Schlechte in Kauf nehmen müssen. Aber im Polizeiberuf wird das schneller und öfter deutlich als anderswo. Luther hat einmal die paradoxe Forderung aufgestellt "Sündige tapfer!" – womit er natürlich nicht moralische Haltlosigkeit propagieren wollte, sondern im Gegenteil eine besonders hoch entwickelte Moralität, die sich der Widersprüche und schwierigen Entscheidungen bewusst ist, in denen wir uns bewegen und in denen das Gute manchmal nur getan werden kann, wenn wir uns nicht scheuen, auch Schuld auf uns zu nehmen. Das zu tun, statt sich zu drücken, ist Tapferkeit, die nicht umsonst schon in der griechischen Philosophie zu den Kardinaltugenden zählt. In besonders zugespitzter Weise gilt das für der Einsatz der Schusswaffe. Ein Beamter berichtete mir, wie er sich einmal, um eine Geisel zu retten, entschloss, den "finalen Rettungsschuss" abzugeben. Er vermied in unserem Gespräch das Wort "töten", und zuerst hielt ich das für einen Euphemismus. Er erklärte mir dann jedoch, dass er mit diesem eigentlich hundertprozentig tödlichen Schuss tatsächlich nicht töten wollte – und erstaunlicherweise auch nicht getötet hat. Der Getroffene hat überlebt. Aber der Beamte musste doch bereit sein – buchstäblich: zur Not – auch mit dem Tod dieses Mannes zu leben. Anpassung Als Pastor, der sich seine Arbeit sehr frei einteilen kann und selbst zu seiner Bischöfin nur in einer losen Abhängigkeit steht, der auch – ich hoffe, mich darin nicht einer Selbsttäuschung hinzugeben – als Gemeindepastor seinen Mitarbeiterinnen viel Gestaltungsspielraum gelassen hat, sehe ich immer wieder mit Staunen auf die große Abhängigkeit von Polizisten innerhalb ihres Apparates und frage mich, wie diese wohl auf ihr Selbstverständnis und Lebensgefühl wirkt. Natürlich weiß ich, dass Anpassung in einer großen Behörde und erst recht in bestimmten Einsätzen unumgänglich ist. Ich weiß auch, dass es Vergleichbares in anderen Berufen gibt. Und ich meine sogar, dass es auch heute noch so etwas wie Dienen im besten Sinne gibt. Aber ich finde es doch problematisch, wenn mehr als die Hälfte einer Lehrgruppe in einer kleinen Umfrage ankreuzt: "Wer offen seine Meinung vertritt, muss mit einer schlechteren Bewertung rechnen." Ob diese Angst berechtigt ist, mag dahingestellt bleiben. Allein dass sie da ist, wird nicht ohne Wirkung bleiben. Und so bemerke ich immer wieder geringen Mut in Aussprachen, selbst ganz harmlose Dinge werden erst geäußert, wenn "der Alte" aus dem Zimmer ist usw. Wie viele Beamte, die diese Sozialisation durchlaufen haben, bringen im Höheren Dienst mit seinen noch einmal ganz eigenen Abhängigkeiten den Mut auf, einem Präsidenten oder Senator oder Minister zu widersprechen? Und wenn sie es tun, müssen sie ja tatsächlich damit rechnen, sich von einem Tag auf den anderen aus einer sogenannten einflussreichen Position in ein Nebenzimmer versetzt zu finden. Hier stellen sich ethische Fragen in größter Schärfe. Sie sind immer wieder Thema, wenn ich mich etwa mit Ratsanwärtern unterhalte. Dabei weiß ich selbst nicht, ob ich mich in vergleichbarer Position bewähren würde. Aber ich merke, dass dieses Problem die gewissenhafteren unter den aufstrebenden Polizisten beschäftigt. Manch einer verstößt wohl eine Zeit lang gegen ihm wichtige Grundsätze, weil er seine Karriere, wenn überhaupt, erst einer wichtigeren Sache opfern will als der, die ihm jetzt gerade vor die Füße gelegt worden ist. Aber jeder weiß natürlich: So etwas kann ein schleichender Prozess werden, an dessen Ende man sich selbst kaum wiedererkennt. Loyalität In diesen Zusammenhang gehört auch die ethische Grundfrage, ob es Grenzen der Loyalität dem Staat gegenüber geben könne. Wir würden uns sicher schnell darauf verständigen können, dass dies dort der Fall sein muss, wo Grund- oder Menschenrechte verletzt werden. Aber wo genau verlaufen hier die Grenzen? Wieviel Widerstandskraft bringe ich in solchen Situationen auf? usw. Nun mag das Problem einigermaßen fern liegen. Schließlich leben wir in einem Rechtsstaat. Aber wie wir gerade in Italien sehen, sind auch Rechtsstaaten nicht vor ihrer Selbst-Demontage gefeit. Was macht ein Polizist dann? Oder was macht er in einem Gewissenskonflikt, wie ihn der Schweizer Polizeihauptmann Grüninger empfand, der gegen das Gesetz verstieß, indem er verfolgte Juden über die Grenze in die Schweiz schleuste? Mich haben solche Fragen besonders in der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus schon als jungen Menschen bewegt. Für viele Polizisten, auch die angehenden, scheint jedoch mit der Berufswahl und der damit gebotenen Gesetzestreue – die ja in der Tat ein eminent hohes Gut ist – alles Weitere geklärt. Als ein älterer Beamter von der Scham erzählt, die er noch heute empfindet, wenn er daran zurückdenkt, dass er als junger Polizist dem Befehl "Treibt sie in die Alster!" wie alle anderen Kollegen blindlings gefolgt ist, haben die Polizeischüler keine große Lust, sich diesem Thema zu stellen. Die meisten Kommentare wehren ab: "Wenn ich in einer solchen Situation stehen bliebe, würde ich die Kollegen gefährden" usw. Darüber hinausgehende Fragen bleiben ausgeblendet. Bei einigen Polizisten, die noch in der DDR Soldaten gewesen waren, habe ich ein regelrecht autoritäres Staatsverständnis vorgefunden. So hörte ich einmal bei einem Großeinsatz Lösungsvorschläge, die ich hier nicht wiedergeben möchte. Darauf ist mir ist ein so energischer Widerspruch herausgerutscht, dass hinterher fünf Minuten betroffene Stille herrschte. Jahre später sprach mich einer der beteiligten Beamten an und gab zu verstehen, dass sich seine Ansichten mittlerweile geändert hätten. Das hat mich natürlich gefreut – und mir gezeigt, dass bei aller Zurückhaltung, die ich mir aus seelsorgerlichen Gründen sonst auferlege, auch einmal ein klares Wort nötig und wirksam sein kann. Die Würde der Mitarbeiter Ich habe den Eindruck, dass fast jeder Polizist schon einmal eine Demütigung oder Enttäuschung durch Vorgesetzte, Kollegen, "die Behörde" erlebt hat, die an das Selbstwertgefühl gegangen ist. Dazu gehören für mich auch die Scheinbeteiligung an Entscheidungsprozessen, deren Ergebnis längst feststeht, das Vorfinden eines leeren Schreibtisches, wenn man aus dem Urlaub zurückkommt, plötzliches Nicht-mehr-gekannt-Werden usw. Da muss es viele nur mühsam vernarbte Wunden geben. Manches an solchen unglücklichen Vorgängen mag den Reibungsverlusten und Abstimmungsproblemen geschuldet sein, die in einer großen Organisation unvermeidlich sind. Um so wichtiger ist, dass sich insbesondere Vorgesetzte um größtmögliche Transparenz und Kooperation bemühen und so die Würde ihrer Mitarbeiter – auch für sie gilt ja der Artikel 1 des Grundgesetzes – achten. Abstumpfung Wenn ich Polizeianwärterinnen und -anwärtern gegenübersitze, die vielleicht gerade von der Schule abgegangen sind und relativ unbekümmert in die Zukunft blicken, frage ich mich manchmal, wie ihr künftiger Beruf sie wohl im Laufe der Jahre formen wird. Jeder von Ihnen kennt den müden und verbrauchten, altgedienten Polizisten, dessen gesamte Stellungnahme zu seiner Arbeit sich in dem Satz erschöpft: "Das ist nicht mehr meine Polizei." Und Sie kennen den Kollegen, dessen "professionelle Distanz" so ausgeprägt ist, dass nichts Lebendiges mehr durch seine Lederhaut dringt. Ich weise junge Beamte auf diese Gefahren hin und ermuntere sie, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, damit sie daran wachsen und nicht abstumpfen, damit sie nachdenkliche und am Leben weiterhin interessierte Menschen bleiben. Denn was immer über die prägenden Mechanismen der Polizei-Bürokratie und über die Spuren gesagt werden kann, welche die Eindrücke auf der Straße in der Seele eines Polizisten hinterlassen – sie heben die Wahrheit nicht auf, dass jeder Mensch aus gegebenen Bedingungen Verschiedenes machen kann, sofern er sich diesen mit wachen Sinnen stellt. Deswegen ist es für mich eine zugleich moralische und seelsorgerliche Aufgabe, im Einzelgespräch wie im Unterricht oder auf Seminaren einen Raum zu öffnen, in dem die Menschen sich ihrer selbst vergewissern und gleichsam nach dem tasten können, was ein gutes Leben ausmacht. Da kann jeder etwas für sich selbst tun. Aber auch als Institution kann die Polizei etwas beitragen, indem sie beispielsweise hilft, dass Polizistinnen und Polizisten unter den schlimmen Eindrücken, die sie aushalten müssen, nicht allmählich begraben werden. Ein Beitrag hierzu sind die überall entstandenen Betreuungsangebote nach besonderen Einsatzbelastungen. Immer wieder höre ich: "So etwas hätte ich früher auch brauchen können." Viele Beamte schleppen schlimme Erinnerungen mit sich herum – gepaart mit dem Gefühl: "Das hat damals keinen interessiert." Hier ändert sich Gott sei Dank einiges. Selbstbild Einer der Orte, an denen sich ethische und seelsorgerliche Fragen überschneiden, ist unser Selbstbild. In ihm vereinen sich bewusste Vorsätze und Werte mit teilweise unbewussten Veranlagungen und Zielen, wobei es nicht selten vorkommt, dass Letztere die Ersteren untergraben: Wenn ich mit der Vorstellung durchs Leben laufe, ich müsse stets den unbesiegbaren Helden geben, hat das natürlich Einfluss auf die Haltung, mit der ich dem Bürger gegenübertrete. Ein solches Ideal wird es mir auch schwerer machen, mit einem Einsatz fertig zu werden, in dem ich um mein Leben gefürchtet und mir beinahe in die Hosen gemacht habe. Wenn ich dieses Erlebnis wirklich verarbeiten will, komme ich um eine wahrscheinlich mühsame Revision meines Selbstbildes nicht herum. Auch im Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern spielt es eine Rolle: Einmal wurde ich Zeuge, wie ein Beamter vor allen Kollegen auf eine Weise zurechtgewiesen wurde, die für ihn sehr demütigend gewesen sein muss. Das lag sicher nicht in der Absicht des Vorgesetzten. Aber dessen Bedürfnis, den schneidigen Entscheidungsträger hervorzukehren, durchkreuzte in diesem Moment seine sonstigen, sicher ehrlich gemeinten Führungsgrundsätze. Für das Klima in einer Dienstgruppe gilt Entsprechendes. Das Thema hat aber nicht nur für den Einzelnen oder kleine Gruppen erhebliche Bedeutung, sondern auch für die Institution, die ja ebenfalls so etwas wie ein (kollektives) Selbstbild besitzt: Verlangt sie – offen oder heimlich – Perfektion, oder gibt es eine "Fehlerkultur"? Bekommt ein Polizist eine schlechtere Beurteilung, wenn er seelsorgerlichen oder psychologischen Rat sucht, oder wird das als Zeichen eines klugen Umgangs mit sich selbst gesehen? Darf einem auch mal übel werden, oder muss man immer den Coolen markieren? Neulich erzählte mir ein Polizist von einem Einsatz, der ihn so sehr geekelt hatte, dass er das vor seinen Kollegen nicht verbergen und auch den Einsatz nicht zu Ende bringen konnte. Daraufhin wurde ihm an der Wache "zum Spaß" ein Gericht vorgesetzt, das ihn sofort wieder an diesen Einsatz erinnern musste. Solche Scherze erlauben sich nur Menschen, deren Kontakt zu ihren eigenen Gefühlen beschädigt ist. Ihr Mitgefühl für andere Menschen ist ebenso lädiert wie das für sich selbst. Man kann sich vorstellen, wie ihr Umgang mit dem Bürger ausfällt. Je besser Menschen sich selbst, mit ihren Stärken und Schwächen, kennen und annehmen, je reicher ihr Innenleben ist, desto differenzierter wird auch ihr Umgang mit anderen sein. Dies ist der Grund, warum für mich Seelsorge und Ethik ein gutes "Team" sind. Sie können einander gegenseitig befruchten. Erst im Dialog mit unserem eigenen Innenleben gewinnen moralische Vorstellungen und Leitbilder wirkliche Kraft. Frank Rutkowsky e-mail |