In den Debatten rund um tödliche Polizeieinsätze – in den USA der Fall George Floyd, in Deutschland Mouhamed Dramé – taucht eine Frage immer wieder auf: Wo ist staatliche Gewalt notwendig, wo muss sie begrenzt werden – und wer setzt diese Grenzen? Der Neutestamentler Stefan Alkier und der Polizeiethiker Werner Schiewek setzen sich in einem gemeinsamen Buch aus zwei unterschiedlichen Perspektiven mit der Frage nach der Gewalt auseinander und stellen biblisch-theologische Deutung und polizeiethische Reflexion einander gegenüber.
Weiterlesen: Gewalt überwinden?
Der Titel ihres gemeinsamen Buches: „Gewalt überwinden? Gewalt und Gewaltverzicht in biblischen Texten und in der Arbeit der Polizei“. Das Fragezeichen im Buchtitel „Gewalt überwinden?“ ist bewusst gesetzt: Gewalt gehört zum menschlichen Zusammenleben und wird nicht einfach verschwinden. Die theologisch durchaus provozierende These geht aber noch einen Schritt weiter: Gewalt ist dem biblischen Gottesverständnis selbst eingeschrieben. Das Konzept der Gottesebenbildlichkeit wird dabei gegen den Strich gebürstet: Weil Gott gewaltfähig ist, ist es der Mensch als Gottes Ebenbild auch. Aber auch das gilt und ist eine ethische Aufgabe: „Wie der gewaltige Gott auf den Einsatz von Gewalt verzichten kann und will, so kann es auch der Mensch, Gottes Ebenbild.“ (S. 190)
Nach einer gemeinsam verfassten Einleitung und 33 Thesen zu Gewalt und Gewaltverzicht stellen die Autoren zwei unterschiedliche Blickpunkte nebeneinander:
Werner Schiewek schaut von der Polizei her auf das Phänomen „Gewalt“. Einen wichtigen Anteil haben dabei Überlegungen zum Gewaltbegriff selbst. Als analytisches Raster greift er dazu auf Vorschläge Jan Philipp Reemtsmas zurück, der drei Formen von Gewalt phänomenologisch unterscheidet:
• lozierende Gewalt, die z.B. etwas aus dem Weg räumt oder örtlich fixiert
• raptive Gewalt, die den Anderen für eigene Zwecke benutzt
• autotelische Gewalt, die ihren Zweck in sich selbst hat und einfach zerstören und vernichten will.
Das staatliche Gewaltmonopol kann sich nur der ersteren Form bedienen. Die anderen beiden Formen lassen sich nicht legitimieren. Dabei stehen Polizeialltag der eigene Einsatz von Zwangsmitteln neben dem Erfahren von Gewalt und eigenem Gewalterleben. Gewalt lässt sich nicht eliminieren, aber sie ist aus ethischer Sicht zu minimieren. Schiewek sieht darin sogar eine „Kernaufgabe heutiger Polizeiarbeit“: PVB sind geradezu „Gewaltminimierungsspezialist:innen“.
Stefan Alkier untersucht als biblischer Theologe die Gewaltthematik in alt- und neutestamentlichen Texten. Mit semiotisch informiertem Instrumentarium blickt er dabei auf einen großen, biblischen Erzählbogen, von der Schöpfungsgeschichte über Kain und Abel, die Sintflut, Abraham und Mose bis zur Passion Jesu. Dabei arbeitet Alkier Gewalt als ein Beziehungsgeschehen heraus.
Einen besonderen Fokus richtet Alkier auf 1. Samuel 15, wo Gott die Anweisung gibt, das ganze Volk der Amalekiter zu vernichten. Erschreckend daran ist, dass diese verstörende Geschichte bis heute dazu dient, Gewalt gegen Feinde zu legitimieren, so etwa seit dem Hamas-Angriff auf Israel im Oktober 2023. Hier zeigt sich die brennende Aktualität der Thematik, wenn biblische Texte genutzt werden, um eigene Gewalt zu legitimieren.
Für Alkier ist klar: Gewalt wird aus der Welt nicht verschwinden. Sich dem realistisch zu stellen, heißt aber nicht, Gewalt bloß hinzunehmen. Auch in seiner biblisch-theologischen Perspektive läuft alles zu auf eine „Ethik der Gewaltminderung“ (S. 184). Hier treffen sich Alkier und Schiewek, die in ihren Texten sonst durchaus unterschiedliche Standpunkte einnehmen können.
„Gewalt überwinden?“ ist kein friedensromantischer Appell, sondern will gesellschaftliche wie polizeiliche Diskurse der Gewaltbegrenzung anstoßen, die vor der Gewalt die Augen nicht verschließen, und doch nach Wegen suchen, wie sich Gewalt, wenn nicht verhindern, so doch mindern lässt.
Stefan Alkier und Werner Schiewek: Gewalt überwinden? Gewalt und Gewaltverzicht in biblischen Texten und in der Arbeit der Polizei. (Biblische Argumente in öffentlichen Debatten, Bd. 4.) Paderborn: Brill | Schöningh 2025. 49,90 €.
